POSITIONEN   Mai 2007

 


Das "Concertos Project"

Michael Mantler und das Kammerensemble Neue Musik
Über ein Werk in statu nascendi

Fast gewinnt man den Eindruck, dass sie, von unterschiedlichen Erfahrungen kommend, einander folgerichtig finden mussten: der in Personalunion als Trompeter, Komponist und Ensembleleiter agierende Michael Mantler und das Kammerensemble Neue Musik. Intentionen, Überlegungen und musikalische Konzepte erweisen sich als komplementär, mitunter sogar als wahlverwandt. Michael Mantler ist eine Zentralfigur in einer Musik, die sich der kategorialen Zuordnung entzieht, mithin einer der Außenseiter von musikalischer Signifikanz. Der in Wien Geborene ging 1962, damals 19-jährig, nach Amerika, um sein Musikstudium fortzusetzen. Nirgendwo fest beheimatet, weder in den Gefilden des Jazz noch in denen der Neuen Musik, und nirgendwo recht zu Hause, weder in den USA, wo er rund drei Jahrzehnte gewirkt hat, noch in Europa, wo er seit Anfang der neunziger Jahre, teils in Kopenhagen, teils in Frankreich, lebt, gleicht sein Lebens- und Werkkauf dem eines unermüdlichen Grenzgängers.

Jazz Composer's Orchestra
Doch Michael Mantler wechselt nicht wahllos die Richtungen. Bei aller Vielgestaltigkeit seines Œvres, das sich von Duos bis zu Werken für großes Orchester, von konzertant aufgeführten Literaturvertonungen bis zu szenischen Aufführungen spannt, offenbart er eine Langzeit-Kontinuität. Seine musikalische Phantasie entzündet sich an der Dialektik von Komposition und Improvisation, von determiniertem Ensembleklang einerseits und unverwechselbarem, spontanem Individualklang andererseits. Mitte der sechziger Jahre formierte er mit seiner damaligen Frau Carla Bley und der Creme der New Yorker Free-Jazz-Improvisatoren das Jazz Composer's Orchestra. Michael Mantler wollte eine Plattform schaffen, um neue Werke für eine größere unkonventionelle Jazzformation selbst komponieren, in Auftrag geben, aufführen und aufnehmen zu können. Zugleich ging es ihm darum, "einigen der einzigartigen und herausragenden Free-Jazz-Improvisatoren eine orchestrale Umgebung zu geben, ohne sie in ihrer Kreativität einzuschränken."

Auf dem 1968 mit dem JCO aufgenommenen Doppelalbum, das längst als "Klassiker" eines Genres gilt, für das es bis heute keine griffige Bezeichnung gibt, kann man im Verein mit den charismatischen Instrumental-Stimmen von Cecil Taylor, Don Cherry, Pharoah Sanders, Larry Coryell, Roswell Rudd, Gato Barbieri und Carla Bley auch eine neue Orchestersprache hören, deren Ausformung und Differenzierung Michael Mantler bis zum heutigen Tag beschäftigt. "Im Jazz Composers' Orchestra", resümierte Mantler, "war außer den Stimmen für die Solisten der Stücke alles ausnotiert. Aber auch die Solisten hatten ihre Texte, also die Musik, die um sie herum passierte. So entstanden die Improvisationen in direkten Reaktionen auf ihr Umfeld, waren dadurch kontrolliert. Auch heute noch verwende ich improvisierende Musiker sehr gern, ohne dass ich sie improvisieren lassen würde, weil sie im Gegensatz zu ‚klassischen' Musikern eine ganz besondere Art haben, Geschriebenes zu interpretieren und zu phrasieren. Bei einem Symphonieorchester zum Beispiel weiß ich genau: Da sitzen hundert klassisch geschulte Symphoniker. Wenn man denen etwas vorlegt, ohne ihnen zum Beispiel genaue dynamische Informationen zu geben, können sie das nicht spielen. Sie brauchen den Bogen, genaueste Angaben, ansonsten besteht das Papier, das da vor ihnen auf dem Pult liegt, aus nichts anderem als wertlosen Noten. Es ist nicht ihre Aufgabe zu erfinden, wie man etwas spielt."

Kontinuität
Mit seinem "Concertos Project" nimmt der Komponist das bereits mit dem JCO vorgezeichnete und mit unterschiedlichen Besetzungen weiterentwickelte Konzept des Solo-Konzerts wieder auf. Gemeinsam mit dem Kammerensemble Neue Musik soll eine Folge von Konzerten für Solisten unterschiedlicher musikkultureller Herkunft wie den Posaunisten Roswell Rudd, den Tenorsaxophonisten Bob Rockwell, den Gitarristen Bjarne Roupé, die Pianistin Majella Stockhausen, den Marimba und Vibraphon spielenden Pedro Carneiro, den Perkussionisten Nick Mason und den Bandleader Michael Mantler, Trompete, entstehen. Wenn sich, unter der musikalischen Leitung von Roland Kluttig, die unterschiedlich instrumentierten Concertos zu einem Ganzen fügen, werden - bereits bedingt durch musikkulturelle Herkunft und Mentalität der Beteiligten - sehr verschiedene Herangehensweisen zu erleben sein: von der vergleichsweise werkgetreuen Interpretation bis zur individuellen Ausgestaltung und Improvisation.

Das "Concertos Project" wird am 2. November dieses Jahres beim Jazzfest Berlin aufgeführt werden. Im vergangenen Jahr war im Rahmen dieses Festival das vom Pianisten Alexander von Schlippenbach geleitete Globe Unity Orchestra zu erleben, das erstmals 1966 für die Berliner Jazztage formiert wurde, also in der gleichen Zeit seinen Ursprung hat wie Michael Mantlers Jazz Composers' Orchestra. Ging es Alexander von Schlippenbach anfänglich um die Zusammenführung von Kompositionsprinzipien der Neuen Musik mit dem Innovationspotenzial der Free-Jazz-Musiker, so setzte sich im Laufe der Jahre eine Praxis durch, die - unter Einbeziehung minimaler kompositorischer Festlegungen - die freie Improvisation in den Mittelpunkt der Orchester-Arbeit rückte. Michael Mantler, mit ähnlichen musikalischen Fragestellungen befasst, ist den umgekehrten Weg gegangen. Im Laufe der Jahre legte er immer mehr Wert darauf, die Freiheiten der Improvisation zu kontrollieren. Zu seinem Werk "13" von 1975 merkte Mantler an: "Es geht um die Weiterentwicklung von Kompositionen für ein großes Orchester mit Freiheiten der Interpretation, aber ohne Improvisation. Das Orchester ist der Solist." Freilich betont er an anderer Stelle immer wieder die Inspiration, die er durch die Eigenart der Mitwirkenden gewinnt. Das trifft für die Instrumentalisten und im besonderen Masse für die in vielen Werken von Michael Mantler eingesetzten Stimmen zu: "Dabei suchte ich eine ganz besondere Art von Stimmen, nicht perfekte Stimmen, die eigentlich aus dem Blues kommen wie jene von Jack Bruce. Sie sollten von Gefühlen geprägt sein, von Emotionen, nicht von einer klassischen Ausbildung." Stimmen wie die von Jack Bruce, Marianne Faithful, Robert Wyatt lässt Michael Mantler in manchen seiner Kompositionen Texte von Autoren wie Samuel Beckett, Edward Gorey, Harold Pinter, Ernst Meister, Philippe Soupault, Giuseppe Ungaretti und Paul Auster singen. "Abstrakte Texte," so Mantler, "sparsam und zugleich von großer Assoziationskraft." Beim "Concertos Project" treten an die Stelle der Stimmen die Instrumentalisten. Doch auch wenn sich diese in einer vergleichsweise "abstrakten" Klangsprache mitteilen, transportieren einige von ihnen noch immer etwas vom Impetus der Blues- oder Jazzmusiker. Eben das macht die Komplexität des Schaffens von Mantler aus: das simultane Mitdenken der Jazztradition (nicht des Jazzidioms) in einem kompositorisch bestimmten konzertanten Kontext.

Neue Kooperationspartner
Das Kammerensemble Neue Musik, Ende der achtziger Jahre von Juliane Klein, Thomas Bruns und Studenten der Hochschule für Musik "Hanns Eisler" in Berlin gegründet, um unmittelbare Gegenwartsmusik aufzuführen, erweist sich als idealer Partner für Mantlers "Concertos Project". Dem KNM geht es um die Überschreitung der konventionellen Auffassung von Interpretation. In der Zusammenarbeit, zuweilen in interaktiv angelegten Schaffensprozessen mit Komponisten wie Mark André, Beat Furrer, Georg Katzer, Helmut Lachenmann, Chris Newman, Helmut Oehring, Salvatore Sciarrino, Dieter Schnebel transzendierte das Ensemble die herkömmliche Vorstellung von konzertanter Aufführung. Gelegentlich weitet es die traditionelle Konzertsituation in Klanginstallationen und Performances. Vor allem aber konzentriert es sich auf die Ereignishaftigkeit des Musizierens, indem es - wie bei der die realen oder imaginären Räume situativ einbeziehenden Interpretation oder wie bei der Improvisation - die Aura betont und sich mit seinen Aufführungen der Reproduzierbarkeit tendenziell entzieht. Prozessual entfaltet sich dabei ein neuer Musikertyp wie ihn etwa der seit Mitte der neunziger Jahre mit dem KNM spielende Saxophonist und Bassklarinettist Theo Nabicht verkörpert, der ursprünglich vom Jazz und der improvisierten Musik kommt und sich dann mit diesen Erfahrungen der Neuen Musik zuwandte. Auf Initiative von Theo Nabicht kam es unter dem Titel "ear & wir" zu jeweils einwöchigen Arbeitsphasen des Kammerensembles Neue Musik mit vier unterschiedlich profilierten Persönlichkeiten der aktuellen Improvisationsmusik: Fred Frith, Louis Sclavis, Armand Angster und Peter Kowald. Auch Musiker wie der seit 2000 zu den Mitgliedern des KNM zählende Tubist Robin Hayward lassen sich nicht mehr auf die Rolle des herkömmlichen Interpreten reduzieren. Klassisch bestens ausgebildet, assoziiert sich das Spiel Haywards heute vor allem mit einer innovativ orientierten und mitunter Improvisation einbeziehenden Neuen Musik. Auch Hayward bahnte Kooperationen des Ensembles mit Persönlichkeiten aus jenen Musikbereichen an, die sich der eindeutigen Zuordnung entziehen. Wenn das KNM mit Michael Mantler zusammentrifft, wird der musikalische Grenzen überscheitende Schaffensprozess also nicht etwa begonnen, sondern auf neuer Stufe fortgesetzt.

Das Kammerensemble Neue Musik und Michael Mantler arbeiten an den gleichen Schnittstellen. Während das sogenannte Crossover eine Zusammenführung unterschiedlicher Stil- bzw. Musikbereiche anstrebt (und sich oft nicht über die simple Addition oder unvermittelten Gegenüberstellung hinausbewegt), geht es beim "Concertos Project" um die kompositorische Integration unterschiedlich geprägter Solisten und um die kreative Vitalisierung, mitunter auch um die Individualisierung des Ensembleklanges. Ohne das Spannungsverhältnis von Individual- und Gruppenklang aufzugeben werden die Solisten zugleich zu Orchestermusikern, und - um das Bild Von Michael Mantler aufzunehmen - das Ensemble avanciert zum Solisten.

- Bert Noglik

 
     
 

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