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Das "Concertos
Project"
Michael Mantler und das Kammerensemble Neue Musik
Über ein Werk in statu nascendi
Fast gewinnt man den Eindruck, dass sie, von unterschiedlichen Erfahrungen
kommend, einander folgerichtig finden mussten: der in Personalunion als
Trompeter, Komponist und Ensembleleiter agierende Michael Mantler und
das Kammerensemble Neue Musik. Intentionen, Überlegungen und musikalische
Konzepte erweisen sich als komplementär, mitunter sogar als wahlverwandt.
Michael Mantler ist eine Zentralfigur in einer Musik, die sich der kategorialen
Zuordnung entzieht, mithin einer der Außenseiter von musikalischer
Signifikanz. Der in Wien Geborene ging 1962, damals 19-jährig, nach
Amerika, um sein Musikstudium fortzusetzen. Nirgendwo fest beheimatet,
weder in den Gefilden des Jazz noch in denen der Neuen Musik, und nirgendwo
recht zu Hause, weder in den USA, wo er rund drei Jahrzehnte gewirkt hat,
noch in Europa, wo er seit Anfang der neunziger Jahre, teils in Kopenhagen,
teils in Frankreich, lebt, gleicht sein Lebens- und Werkkauf dem eines
unermüdlichen Grenzgängers.
Jazz Composer's Orchestra
Doch Michael Mantler wechselt nicht wahllos die Richtungen. Bei aller
Vielgestaltigkeit seines vres, das sich von Duos bis zu Werken für
großes Orchester, von konzertant aufgeführten Literaturvertonungen
bis zu szenischen Aufführungen spannt, offenbart er eine Langzeit-Kontinuität.
Seine musikalische Phantasie entzündet sich an der Dialektik von
Komposition und Improvisation, von determiniertem Ensembleklang einerseits
und unverwechselbarem, spontanem Individualklang andererseits. Mitte der
sechziger Jahre formierte er mit seiner damaligen Frau Carla Bley und
der Creme der New Yorker Free-Jazz-Improvisatoren das Jazz Composer's
Orchestra. Michael Mantler wollte eine Plattform schaffen, um neue Werke
für eine größere unkonventionelle Jazzformation selbst
komponieren, in Auftrag geben, aufführen und aufnehmen zu können.
Zugleich ging es ihm darum, "einigen der einzigartigen und herausragenden
Free-Jazz-Improvisatoren eine orchestrale Umgebung zu geben, ohne sie
in ihrer Kreativität einzuschränken."
Auf dem 1968 mit dem JCO aufgenommenen Doppelalbum, das längst als
"Klassiker" eines Genres gilt, für das es bis heute keine
griffige Bezeichnung gibt, kann man im Verein mit den charismatischen
Instrumental-Stimmen von Cecil Taylor, Don Cherry, Pharoah Sanders, Larry
Coryell, Roswell Rudd, Gato Barbieri und Carla Bley auch eine neue Orchestersprache
hören, deren Ausformung und Differenzierung Michael Mantler bis zum
heutigen Tag beschäftigt. "Im Jazz Composers' Orchestra",
resümierte Mantler, "war außer den Stimmen für die
Solisten der Stücke alles ausnotiert. Aber auch die Solisten hatten
ihre Texte, also die Musik, die um sie herum passierte. So entstanden
die Improvisationen in direkten Reaktionen auf ihr Umfeld, waren dadurch
kontrolliert. Auch heute noch verwende ich improvisierende Musiker sehr
gern, ohne dass ich sie improvisieren lassen würde, weil sie im Gegensatz
zu klassischen' Musikern eine ganz besondere Art haben, Geschriebenes
zu interpretieren und zu phrasieren. Bei einem Symphonieorchester zum
Beispiel weiß ich genau: Da sitzen hundert klassisch geschulte Symphoniker.
Wenn man denen etwas vorlegt, ohne ihnen zum Beispiel genaue dynamische
Informationen zu geben, können sie das nicht spielen. Sie brauchen
den Bogen, genaueste Angaben, ansonsten besteht das Papier, das da vor
ihnen auf dem Pult liegt, aus nichts anderem als wertlosen Noten. Es ist
nicht ihre Aufgabe zu erfinden, wie man etwas spielt."
Kontinuität
Mit seinem "Concertos Project" nimmt der Komponist das bereits
mit dem JCO vorgezeichnete und mit unterschiedlichen Besetzungen weiterentwickelte
Konzept des Solo-Konzerts wieder auf. Gemeinsam mit dem Kammerensemble
Neue Musik soll eine Folge von Konzerten für Solisten unterschiedlicher
musikkultureller Herkunft wie den Posaunisten Roswell Rudd, den Tenorsaxophonisten
Bob Rockwell, den Gitarristen Bjarne Roupé, die Pianistin Majella
Stockhausen, den Marimba und Vibraphon spielenden Pedro Carneiro, den
Perkussionisten Nick Mason und den Bandleader Michael Mantler, Trompete,
entstehen. Wenn sich, unter der musikalischen Leitung von Roland Kluttig,
die unterschiedlich instrumentierten Concertos zu einem Ganzen fügen,
werden - bereits bedingt durch musikkulturelle Herkunft und Mentalität
der Beteiligten - sehr verschiedene Herangehensweisen zu erleben sein:
von der vergleichsweise werkgetreuen Interpretation bis zur individuellen
Ausgestaltung und Improvisation.
Das "Concertos Project" wird am 2. November dieses Jahres beim
Jazzfest Berlin aufgeführt werden. Im vergangenen Jahr war im Rahmen
dieses Festival das vom Pianisten Alexander von Schlippenbach geleitete
Globe Unity Orchestra zu erleben, das erstmals 1966 für die Berliner
Jazztage formiert wurde, also in der gleichen Zeit seinen Ursprung hat
wie Michael Mantlers Jazz Composers' Orchestra. Ging es Alexander von
Schlippenbach anfänglich um die Zusammenführung von Kompositionsprinzipien
der Neuen Musik mit dem Innovationspotenzial der Free-Jazz-Musiker, so
setzte sich im Laufe der Jahre eine Praxis durch, die - unter Einbeziehung
minimaler kompositorischer Festlegungen - die freie Improvisation in den
Mittelpunkt der Orchester-Arbeit rückte. Michael Mantler, mit ähnlichen
musikalischen Fragestellungen befasst, ist den umgekehrten Weg gegangen.
Im Laufe der Jahre legte er immer mehr Wert darauf, die Freiheiten der
Improvisation zu kontrollieren. Zu seinem Werk "13" von 1975
merkte Mantler an: "Es geht um die Weiterentwicklung von Kompositionen
für ein großes Orchester mit Freiheiten der Interpretation,
aber ohne Improvisation. Das Orchester ist der Solist." Freilich
betont er an anderer Stelle immer wieder die Inspiration, die er durch
die Eigenart der Mitwirkenden gewinnt. Das trifft für die Instrumentalisten
und im besonderen Masse für die in vielen Werken von Michael Mantler
eingesetzten Stimmen zu: "Dabei suchte ich eine ganz besondere Art
von Stimmen, nicht perfekte Stimmen, die eigentlich aus dem Blues kommen
wie jene von Jack Bruce. Sie sollten von Gefühlen geprägt sein,
von Emotionen, nicht von einer klassischen Ausbildung." Stimmen wie
die von Jack Bruce, Marianne Faithful, Robert Wyatt lässt Michael
Mantler in manchen seiner Kompositionen Texte von Autoren wie Samuel Beckett,
Edward Gorey, Harold Pinter, Ernst Meister, Philippe Soupault, Giuseppe
Ungaretti und Paul Auster singen. "Abstrakte Texte," so Mantler,
"sparsam und zugleich von großer Assoziationskraft." Beim
"Concertos Project" treten an die Stelle der Stimmen die Instrumentalisten.
Doch auch wenn sich diese in einer vergleichsweise "abstrakten"
Klangsprache mitteilen, transportieren einige von ihnen noch immer etwas
vom Impetus der Blues- oder Jazzmusiker. Eben das macht die Komplexität
des Schaffens von Mantler aus: das simultane Mitdenken der Jazztradition
(nicht des Jazzidioms) in einem kompositorisch bestimmten konzertanten
Kontext.
Neue Kooperationspartner
Das Kammerensemble Neue Musik, Ende der achtziger Jahre von Juliane Klein,
Thomas Bruns und Studenten der Hochschule für Musik "Hanns Eisler"
in Berlin gegründet, um unmittelbare Gegenwartsmusik aufzuführen,
erweist sich als idealer Partner für Mantlers "Concertos Project".
Dem KNM geht es um die Überschreitung der konventionellen Auffassung
von Interpretation. In der Zusammenarbeit, zuweilen in interaktiv angelegten
Schaffensprozessen mit Komponisten wie Mark André, Beat Furrer,
Georg Katzer, Helmut Lachenmann, Chris Newman, Helmut Oehring, Salvatore
Sciarrino, Dieter Schnebel transzendierte das Ensemble die herkömmliche
Vorstellung von konzertanter Aufführung. Gelegentlich weitet es die
traditionelle Konzertsituation in Klanginstallationen und Performances.
Vor allem aber konzentriert es sich auf die Ereignishaftigkeit des Musizierens,
indem es - wie bei der die realen oder imaginären Räume situativ
einbeziehenden Interpretation oder wie bei der Improvisation - die Aura
betont und sich mit seinen Aufführungen der Reproduzierbarkeit tendenziell
entzieht. Prozessual entfaltet sich dabei ein neuer Musikertyp wie ihn
etwa der seit Mitte der neunziger Jahre mit dem KNM spielende Saxophonist
und Bassklarinettist Theo Nabicht verkörpert, der ursprünglich
vom Jazz und der improvisierten Musik kommt und sich dann mit diesen Erfahrungen
der Neuen Musik zuwandte. Auf Initiative von Theo Nabicht kam es unter
dem Titel "ear & wir" zu jeweils einwöchigen Arbeitsphasen
des Kammerensembles Neue Musik mit vier unterschiedlich profilierten Persönlichkeiten
der aktuellen Improvisationsmusik: Fred Frith, Louis Sclavis, Armand Angster
und Peter Kowald. Auch Musiker wie der seit 2000 zu den Mitgliedern des
KNM zählende Tubist Robin Hayward lassen sich nicht mehr auf die
Rolle des herkömmlichen Interpreten reduzieren. Klassisch bestens
ausgebildet, assoziiert sich das Spiel Haywards heute vor allem mit einer
innovativ orientierten und mitunter Improvisation einbeziehenden Neuen
Musik. Auch Hayward bahnte Kooperationen des Ensembles mit Persönlichkeiten
aus jenen Musikbereichen an, die sich der eindeutigen Zuordnung entziehen.
Wenn das KNM mit Michael Mantler zusammentrifft, wird der musikalische
Grenzen überscheitende Schaffensprozess also nicht etwa begonnen,
sondern auf neuer Stufe fortgesetzt.
Das Kammerensemble Neue Musik und Michael Mantler arbeiten an den gleichen
Schnittstellen. Während das sogenannte Crossover eine Zusammenführung
unterschiedlicher Stil- bzw. Musikbereiche anstrebt (und sich oft nicht
über die simple Addition oder unvermittelten Gegenüberstellung
hinausbewegt), geht es beim "Concertos Project" um die kompositorische
Integration unterschiedlich geprägter Solisten und um die kreative
Vitalisierung, mitunter auch um die Individualisierung des Ensembleklanges.
Ohne das Spannungsverhältnis von Individual- und Gruppenklang aufzugeben
werden die Solisten zugleich zu Orchestermusikern, und - um das Bild Von
Michael Mantler aufzunehmen - das Ensemble avanciert zum Solisten.
- Bert Noglik
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